Cannstatter Volksfestzeitung 2025

Herr Wager, wenn Sie sehen, was heute auf dem Cannstatter Wasen als „Tracht“ durchgeht – blutet Ihnen da manchmal das Herz als Brauchtumsexperte? Überhaupt nicht. Ich finde das völlig in Ordnung. Wenn man zusammen feiert, hat eine bestimmte Kleidung ein verbindendes Element. Denken Sie an ein Fußballspiel: Wenn die Menschen alle in ihremVfB-Trikot kommen, erzeugt das Zusammenhalt. Aber klar, Tracht sind solche Dirndl und Lederhosen keine, sondern Trachtenmode. Da besteht ein großer Unterschied. Beides hat aber seine Berechtigung. Noch vor ein paar Jahrzehnten war der Wasenbesuch in Jeans und T-Shirt völlig normal – wann begann eigentlich der Siegeszug von Dirndl und Lederhose auf dem Festgelände? Das war so ungefähr vor 25 Jahren. Davor sind die Leute in ganz normaler Alltagskleidung auf den Wasen. Wie übrigens auch in München auf die Wiesn, da hat Trachtenmode keine längere Tradition als bei uns. In Stuttgart ist der Wasenwirt Hans-Peter Grandl Ende der 1990er Jahre hergegangen und hat seinen Gästen gesagt: Auch wenn mein Zelt voll ist – wenn ihr Tracht anzieht, kommt ihr trotzdem rein. Das war der Beginn eines Booms. Bald haben es die anderen Festwirte auch so gemacht. Und je günstiger man eine Lederhose oder ein Dirndl dann bekommen konnte, halt als Imitat aus Fernost, desto mehr setzte sich die Trachtenmode durch. Wie kleideten sich die Menschen im Jahr 1841, wenn sie das Volksfest besuchten? Für mein Buch über die Geschichte des Cannstatter Volksfestes habe ich sehr viele historische Bilder und Postkarten gesammelt und gesichtet. Die Landbevölkerung kam in dem was sie hatte, und das war ihre gute Sonntagstracht. Die Städter waren modischer gekleidet, Frauen in Kleidern mit Turnüre, Männer im Gehrock zum Beispiel. Und was sagte ihr „Häs“ dann über die Wasenbesucher aus? Die Tracht war ein sozialer Indikator. An ihr konnte man die verschiedensten Dinge ablesen: Das Alter, den Beruf, den Familienstand. Ledige Frauen waren immer bunter gekleidet als verheiratete. Waren sie verheiratet, kamen sie buchstäblich „unter die Haube“ und trugen eine entsprechende Kopfbedeckung. Stammte eine Frau aus einem reicheren Haus, hatte sie mehr Samt am Kleid oder Goldborten. So konnte man auf einen Blick sehen: Verheiratet oder nicht? Wohlhabend oder nicht? Sie haben sich intensiv mit historischen Trachten beschäftigt – welche Quellen oder Vorbilder haben Ihnen verraten, wie die Kleidung damals beschaffen war und welche Stoffe verwendet wurden? Ganz viel konnten wir aus Inventurlisten ablesen: Wenn früher jemand geheiratet hat oder gestorben ist, hat man ganz genau aufgeschrieben, was derjenige an Besitz hatte. Weil die Schreiberlinge dieser Listen nach Zeilen bezahlt wurden, haben die alles sehr, sehr genau aufgeführt. Also haben wir vomAnfang des 17. bis Ende des 19. Jahrhunderts für Cannstatt eine ausführliche Liste der Kleidung, die die Menschen hatten. Das geht bis ins letzte Detail: Ein scharlachrotes tuchenesWams samt 18 Silberknöpfen. So konnten wir fast 70 Trachten rekonstruieren. 2018 haben Sie gemeinsam mit Krüger-Dirndl eine schwäbische Tracht entworfen. Inwieweit entsprach dieses Modell tatsächlich der historischen Vorlage? Ziemlich, denn sie baute auf den Forschungen auf, die wir in Bad TRACHTEN IM TREND Ein Interviewmit TrachtenexperteWulf Wager Historische Cannstatter Trachten aus der Zeit der Volksfestgründung Anfang des 19. Jahrhunderts. Foto: Thomas Niedermüller 40 Cannstatter Volksfestzeitung 2025

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